OLG Naumburg, Urteil vom 24.09.2024, Az. 1 U 86/23
Zusammenfassung
Kern des Falls war die unzulässige Erweiterung eines ursprünglich vereinbarten Eingriffs ohne die erforderliche Einwilligung der Patientin. Bei dem Eingriff wurde der Nervus lingualis verletzt. Die Patientin machte mit ihrer Klage Schadensersatzansprüche wegen Aufklärungs- und Behandlungsfehler geltend.
Vereinbart war zwischen Zahnarzt und Patientin ein wenig invasiver Eingriff, die Befreiung der Kaufläche des Zahns 48 von einer Zahnfleischkapuze. Während des Eingriffs erweiterte der Zahnarzt eigenmächtig den Behandlungsplan und führte eine tiefe Exzision der Schleimhautwucherung durch. Über die Erweiterung war die Patientin nicht informiert worden, eine notwendige Einwilligung lag demgemäß nicht vor. Der gerichtlich hinzugezogene Sachverständige wies mit Blick auf das Operationsgebiet – die linguale Seite des Weisheitszahns – auf die Gefahr einer Nervverletzung aufgrund einer relativ engen Lagebeziehung zum Verlauf u.a. des Nervus lingualis mit entsprechender Komplikationsmöglichkeit hin. Erschwerend kam im konkreten Fall hinzu, dass der beklagte Zahnarzt weder prä- noch intraoperativ eine Röntgenaufnahme gefertigt hatte. Das wäre lt. Sachverständigen vor der tiefen Gewebeabtragung zur Beurteilung der Lage und der Erhaltungswürdigkeit des Weisheitszahns sowie der Platzverhältnisse jedoch erforderlich gewesen. Bei einem röntgenologisch erkennbaren Engstand sei die tiefe (komplikationsbehaftete und damit aufklärungsbedürftige) Exzision eine sinnlose Maßnahme, weil dann – wie im Falle der Klägerin – die Extraktion des Zahnes die gebotene Behandlungsmethode sei. Sachverständiger und Gericht lasteten dem Zahnarzt daher an, dass er „blind“ eine überflüssige und nicht erfolgversprechende tiefe Exzision durchgeführt hätte. Dadurch kam es dem Sachverständigen zufolge zweifelsfrei zu einer dauerhaften Schädigung des Nervus lingualis.
Das OLG bestätigte das Urteil des Landgerichts, das der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 EUR zugesprochen hatte. Das Gericht würdigte insofern zunächst den Sensibilitätsausfall der rechten Zungenseite und betonte eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität, zumal sich die durch die Nervschädigung eingetretenen Behinderungen u.a. beim Sprechen und Essen nur teilweise kompensieren ließen. Die haftungsbegründende Pflichtverletzung des Zahnarztes liege in erster Linie darin, die Einwilligung der Patientin nicht einmal eingeholt zu haben. Eine konkludente Einwilligung in die kommentarlose Eingriffserweiterung sei auszuschließen. Ebenfalls floss nach den gerichtlichen Ausführungen in die Schmerzensgeldbemessung ein, dass der Zahnarzt „eindeutig fehlerhaft“ gehandelt habe, indem er nicht nur ohne Einwilligung, sondern auch ohne Röntgenbefund und Prüfung der Sinnhaftigkeit der Maßnahme den Eingriff erweitert habe. Der Schaden am Nervus lingualis sei in dieser Situation zweifelsohne grob fahrlässig verursacht, wenn nicht sogar bedingt vorsätzlich – so das Gericht abschließend.
Anmerkung
Die Entscheidung zeigt einmal mehr auf, wie bedeutsam eine ordnungsgemäße Aufklärung vor zahnmedizinischen Eingriffen als Basis einer wirksamen Einwilligung des Patienten ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Behandlung(serweiterung) aus Sicht des Zahnarztes sinnvoll ist oder nicht. Es ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, insbesondere in solchen – nicht lebensbedrohlichen – Behandlungssituationen zuvor über die Maßnahme und mögliche Behandlungsalternativen aufgeklärt zu werden, um sich anschließend informiert entscheidend zu können.